Der Josef von Mariupol
Rabbi Mendel Cohen ist zu einem kurzen Besuch in den Niederlanden und ist bereit zu einem Interview. Seine Heimatstadt Mariupol am Schwarzen Meer existiert nicht mehr. Einige Gebäude stehen noch, aber von einer Stadt kann man kaum noch sprechen. Und die Bewohner? So wie die Stadt: am Boden zerstört.
Rabbi Cohen, was für eine Stadt war Mariupol?
Es war die neuntgrößte Stadt der Ukraine, mit viel Schwerindustrie, an der Schwarzmeerküste gelegen. Unsere jüdische Gemeinde hatte einen Kindergarten, eine Schule, eine Synagoge mit Mikwe. Wir haben zahlreiche Programme angeboten und haben den Mitgliedern auf vielerlei Weise geholfen. Es war eine aufsteigende Stadt, die ihre Besucher willkommen geheißen hat. Jetzt existiert sie nicht mehr.
Sie waren bei Kriegsausbruch nicht in der Stadt. Wie kam das?
Ich hatte vor einiger Zeit Corona gehabt, mit sehr schwerem Verlauf. Ich bin damals nach Israel ausgeflogen worden. Ich bin danach zurückgekehrt nach Mariupol. Dann sollte ich aber zu einer intensiven Nachbehandlung mit Operation noch einmal nach Israel kommen. Ich habe es immer wieder verschoben. Dass es eine Bedrohung gab, war allen klar, aber niemand hat geahnt, dass es einen richtigen Krieg gibt. So bin ich im Februar für den Eingriff nach Israel geflogen. Ein paar Tage später war Krieg.
Wie war es für Sie, die Nachrichten vom Kriegsausbruch zu hören?
Ich war sehr zerrissen. Einerseits war ich erleichtert, dass meine Familie bei mir in Israel war und nicht in Gefahr schwebte. Andererseits war ich mit meinem Herzen und meiner Seele in Mariupol. Es ist furchtbar, zwischen zwei Welten zerrissen zu sein. Quälende Fragen wühlen einen auf: Leben die Menschen noch? Wie kommen sie zurecht? Haben sie noch zu essen? Es gab ja lange keinerlei Kontakt dorthin, deshalb blieb der Druck der Unsicherheit. Es gab kein Wasser, keinen Strom, kein Gas, kein Internet. Ganz selten haben wir mal eine kurze Textnachricht bekommen. Aber wir hatten praktisch keine Ahnung, was in der Stadt los ist.
Und trotzdem haben Sie einen Weg gefunden, den Menschen zu helfen?
[An dieser Stelle schaltet sich Rabbi Jacobs, der Oberrabbiner der Niederlande, ein, der bei dem Gespräch anwesend ist.] „Er war wie ein Josef für die Menschen. Er wurde vorausgeschickt, um von dort aus vielen Menschen in Mariupol zu helfen.“
Rabbi Cohen: Viele haben um das blanke Überleben gekämpft und sich den Kopf zerbrochen, wie sie da herauskommen. Ich möchte dazu etwas sagen. Dank Christen an der Seite Israels konnten wir überleben. Wir haben über die Jahre durch Koen Carlier viele Lebensmittelpakete bekommen. Das hat uns geholfen, eine aktive jüdische Gemeinde aufzubauen. Nicht nur Namen in einer Kartei, sondern Menschen, die zu einer Gemeinschaft gehören. Wir haben vier Lebensmittellieferungen erhalten, „für den Fall der Fälle“. Dank dieser Pakete konnten viele überleben.
Aus Mariupol herauszukommen, war extrem schwierig und gefährlich. Zu Beginn des Krieges habe ich versucht, einen Bus zu organisieren. Ich habe nicht auf die Kosten geschaut, weil ein Menschenleben nicht mit Geld aufzuwiegen ist. Ich bin bis auf 100.000 Dollar hochgegangen, aber es fand sich kein Fahrer, der den Transport übernehmen wollte. Wir haben trotzdem einen Weg gefunden. Einer nach dem anderen gelangten die Menschen auf verschiedensten Routen in weniger gefährliche Gebiete. Mit jeder geglückten Flucht haben wir mehr über die Lage erfahren und uns ein Bild machen können, was die Optionen waren. Es war, als würden sich “Türen der Gnade” öffnen. Letztendlich konnten wir Hunderten zur Flucht verhelfen. Hunderten. Und auch da hat uns CSI wieder geholfen – mit der Abholung aus den ungefährlicheren Nachbarstädten, mit der Notunterbringung, dem Transport zur Grenze, bei den ersten Schritten in Israel.
Wie sieht es jetzt in Mariupol aus, wo die Stadt nicht mehr belagert, sondern besetzt und der Krieg trotzdem noch nicht vorbei ist?
Ungefähr 50 Haushalte aus unserer Gemeinde sind in Mariupol geblieben, aus verschiedenen Gründen. Meist sind es Ältere und Kranke mit ihren Angehörigen. Ein kleiner Hoffnungsstrahl ist, dass es wieder möglich ist, etwas zu kaufen. Nicht viel, aber etwas. Sie versuchen zu überleben, aber sie sind auf Hilfe von außen angewiesen. Der Ort liegt in Schutt und Asche. Ich sehe keine Zukunft für sie dort. Ich hoffe wirklich, dass auch diese Familien noch Alijah machen und nach Israel kommen.
Fotos: Die zerstörte Stadt Mariupol
Ist es noch möglich, in der besetzten Stadt zu helfen?
Ja, auf jeden Fall! Tatsächlich ist die Hilfe von außen jetzt noch dringender nötig als vorher. Es gibt nichts mehr. Die Menschen sind völlig von Hilfeleistungen abhängig, viel mehr als vor dem Krieg. Glücklicherweise ist es wieder möglich, Geld abzuheben und etwas einzukaufen. Auf diese Weise können wir den Menschen helfen.
Sie sind ein Mann des Glaubens. Wie haben Sie Gott in dieser schweren Zeit erlebt?
Es gab so viele Wunder! Ja, viele Menschen sind in Mariupol umgekommen. Aber ich habe auch Geschichten gehört, unter anderem von Holocaustüberlebenden, die fliehen konnten. Menschen, die auf wundersame Weise herausgekommen sind. Und so viele Menschen haben uns geholfen! Es sind viele Wunder passiert.
Übersetzung aus dem Englischen von Anemone Rüger