Frei, aber zu welchem Preis?
Als drei israelische Geiseln am Sonntag, dem 19. Januar, nach 471 Tagen Gefangenschaft im Gazastreifen nach Israel zurückkehrten, legte ein geteiltes Land für einen Moment seine Differenzen beiseite und freute sich.
Tausende Israelis feierten auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv, wo seit mehr als einem Jahr wöchentliche Versammlungen in Solidarität mit den Geiseln stattfinden. Doch trotz der Freude über die Rückkehr einiger Geiseln stellen viele Israelis in Frage, ob es klug ist, den von der Hamas gewünschten Preis für ihre Freilassung zu zahlen.
Dieser Zweifel ist typisch für das moralische Dilemma, in dem sich die israelische Gesellschaft befindet. Die jüdisch-christliche Gesellschaft ist bestrebt, menschliches Leben zu erhalten, muss aber in einer Region überleben, in der das Opfern von Menschenleben für Allah oft als Privileg und Ehre angesehen wird. Zu Hause, am Arbeitsplatz und in den Cafés verfolgten die Israelis atemlos die Bilder von der Rückkehr von Romi Gonen, Doron Steinbrecher und Emily Damari, jungen Frauen, die zu den 251 Menschen gehörten, die die Hamas am 7. Oktober 2023 aus Israel entführt hatte. Bis heute befinden sich rund 90 Geiseln in den Händen der Hamas, und insgesamt 33 von ihnen sollen in Stufe Eins des Geisel-Deals zurückkehren.
Gegner des Deals
Die Rückgabe der ersten Geiseln scheint eine hitzige Debatte zu beenden, die in den letzten Tagen über den Preis geführt wurde, den Israel für die Freilassung dieser 33 Geiseln zahlen müsste: die Freilassung Hunderter palästinensischer Gefangener, darunter auch Terroristen, einen teilweisen Rückzug aus dem Gazastreifen und eine Verzögerung von mindestens 42 Tagen in Israels Krieg zur Zerschlagung der Hamas. Die Gegner des Abkommens, die ihre öffentlichen Proteste nach der Unterzeichnung weitgehend einstellten, argumentierten, dass die Freilassung von 33 Geiseln in der ersten Phase des Abkommens die Chancen für die Freilassung der übrigen 61 Geiseln auf unfaire Weise verringere. Die Gegner argumentierten auch, dass die bisher erzielten militärischen Erfolge gegen die Hamas dadurch zunichte gemacht werden könnten. Ihnen zufolge garantiert das Abkommen das Überleben der Hamas und ist ein Anreiz für Terroristen, neue Entführungen durchzuführen, um weitere palästinensische Gefangene zu befreien.
Ende des Krieges?
Viele befürchten, dass das Abkommen das Ende eines Krieges markiert, der darauf abzielte, die Hamas zu zerschlagen, nachdem sechstausend Hamas-Terroristen in Israel eingedrungen waren, etwa 1.200 Menschen getötet und die Region in einen Krieg gestürzt hatten. „Mein Herz brennt. Ich kann es nicht ertragen, wenn mein Sohn umsonst gestorben ist“, schrieb Moshe Morano, dessen Sohn, Oberfeldwebel Itai Morano, am 7. Oktober 2023 im Kampf gegen Hamas-Terroristen starb. Er lehnt das Abkommen ab, weil „wir in ein paar Tagen herausfinden werden, dass wir an der Nase herumgeführt wurden, währenddessen die andere Seite sich neu formiert und nachrüstet, um noch mehr Soldaten zu töten. Trauer ist eine schwere Last, die man tragen muss. Und jetzt frage ich mich: Wofür war das alles gut?
Einen Preis zahlen
„Ein Pakt mit dem Teufel, egal unter welchen Bedingungen, ist eine Katastrophe, für die wir alle einen Preis in Form von Zinseszinsen zahlen werden; das weiß jeder“, schrieb Rabbi Hagai Lundin, ein führender Autor und Dozent in Israel. Er nennt es „ein klassisches Beispiel dafür, dass die Nation nicht auf die Befriedigung des Bedürfnisses nach Freude verzichtet und kurzfristige emotionale Erleichterung den moralischen Werten vorzieht“. Der Regierung die Schuld zu geben, sei ungerecht, denn „nachdem die israelische Gesellschaft von der Auffassung vereinnahmt wurde, dass das Leben der Geiseln über allem anderen steht, einschließlich der zukünftigen Sicherheit jedes Einzelnen von uns, wurde die Entscheidung für uns alle getroffen“. Dennoch war „nichts umsonst“, schrieb Lundin in einem Meinungsbeitrag auf Arutz 7. „Dank des Kampfes und der enormen Opfer, die wir gebracht haben, ist unsere Situation heute unermesslich besser als noch vor anderthalb Jahren. Trotz des enormen Schadens, den das Abkommen anrichten wird, ist der Würgegriff, in dem sich der Staat Israel befand, gebrochen worden.“
Regierung
Eine Koalitionspartei, Otzma Yehudit, trat aus Protest gegen das Abkommen aus der Regierung aus, schaffte es aber nicht, die Regierung zu stürzen oder das Abkommen zu verhindern. Eine andere Partei, der Religiöse Zionismus, lehnte das Abkommen ab, blieb aber in der Regierung. Nach der Rückkehr der ersten Geiseln am Sonntag, dem 19. Januar, twitterte Finanzminister Bezalel Smotrich, einer der schärfsten Gegner des Abkommens: „Emily, Doron und Romy, willkommen zu Hause! Wir fühlen mit euch, liebe Schwestern! Eine ganze Nation ist stolz auf euch, weint mit euch und umarmt euch unendlich!“
In der DNA
Am Sonntag, den 19. Januar, forderte der Jerusalemer Minister Meir Porush Premierminister Benjamin Netanjahu auf, die Sicherheitsvorkehrungen in Jerusalem zu verschärfen, wo sich einige der freigelassenen Terroristen aufhielten. Seine Sorge spiegelt die Erkenntnis wider, dass die freigelassenen Terroristen, deren Identität bekannt ist, in Zukunft (wieder) Israelis töten oder entführen werden. Niemand versteht das besser als Yossi Kuperwasser, der ehemalige Leiter des militärischen Geheimdienstes der israelischen Armee. Es ist ein „schlechtes Geschäft“, sagte er. Aber Israel musste sich darauf einlassen, denn „unsere Geiseln freizubekommen, liegt einfach in unserer DNA“.
(aus dem Niederländischen übersetzt von M.L. Weissenböck)